Ja, auch die Schweiz ist Teil von Europa! Ich war im März als Jugenddelegierte für den 44. Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarates in Strassburg. Wie er sich von der EU unterscheidet, wieso er so wichtig ist und was ich dort gemacht habe, gibt es hier zu erfahren.
«Europarat? Hä, die Schweiz ist doch gar nicht in der EU», höre ich immer, wenn ich erzähle, wo ich dieses Jahr als Jugenddelegierte hingehe. Das ist tatsächlich sehr verwirrend. Insbesondere, weil sich der Kongress des Europarats sowie das Europaparlament in Strassburg befinden und die Flaggen fast genau gleich aussehen. Trotzdem gibt es klare Unterschiede.
Nach dem 2. Weltkrieg gegründet, ist der Europarat das älteste europäische Organ. Weil Belarus und Russland ausgeschlossen wurden, hat er heute 46 Mitgliedsstaaten, die Schweiz inklusive. Anders als die EU, beschliesst der Europarat keine Gesetze, sondern verabschiedet Empfehlungen. Dabei setzt er sich für die Werte Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit ein.
Der Europarat besteht aus sechs Bereichen:
Jedes Jahr wird aus jedem Mitgliedsland im Rahmen von der «Rejuvenating Politics» Initiative je ein:e Jugenddelegierte:r ausgewählt, die am zweimal jährlich stattfindenden Kongress der Gemeinden und Regionen teilnehmen dürfen. Ich habe mich im Januar 2023 beworben und durfte deshalb mit 45 weiteren jungen Erwachsenen aus ganz Europa vom 19. bis 23. März 2023 nach Strassburg reisen. Obwohl ich die Jugenddelegierte aus der Schweiz bin, bin ich nicht Teil der offiziellen Schweizer Delegation. Diese besteht aus je sechs Gemeinde- und Kantonspolitiker:innen und wird von David Eray, Regierungsrat aus dem Kanton Jura, präsidiert.
Die Youth Delegates vom Kongress 2023 - Bild: http://media-gallery.coe.int/
Wir Jugenddelegierten reisten bereits am Sonntag an, entdeckten das schöne Strassburg und tauschten uns beim Welcome Dinner erstmals aus. Obwohl wir uns noch nie richtig gesehen haben, verschiedene Sprachen sprechen und alle von einem anderen Land kommen, schien es, als würden wir uns schon ewig kennen. Uns vereint die Motivation, den Jungen in der Politik mehr Gehör zu verschaffen und uns für Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in Europa einzusetzen. Von da an wusste ich: Dieses Jahr wird genial.
Nachdem ich zuerst mit anderen Jugenddelegierten unsere Keynote-Speeches entwarf, wurde ich gegen Abend zum Vorbereitungstreffen der Schweizer Delegation eingeladen. Wir lernten uns kennen und besprachen die Themen der kommenden Tage. Anschliessend empfing uns die französische Delegation in der permanenten Repräsentation des Europarats zum Apéro. Bei Champagner, Jakobsmuscheln-Häppchen und Chèvre-Brötchen tauschte ich mich mit Delegierten aus der Frankophonie aus – das Französischlernen hat sich definitiv ausbezahlt.
"Dieses Erlebnis war überwältigend"
Insbesondere, als ich zum krönenden Abschluss des Tages die Ehre erhielt, die Schweizer Delegation zum Abendessen beim Botschafter Meuwly zu begleiten. Bis zu seiner Pensionierung Ende März ist er der dauerhafte Vertreter der Schweiz für den Europarat. Dieses Erlebnis war überwältigend: Ich fand mich in einer mit Blumen geschmückten, Kronleuchtern erhellten und Kunst dekorierten Botschaft wieder und erhielt ein köstliches Abendessen serviert. Durch die Tischgespräche erhielt ich einen exklusiven Einblick in die internationale Politik und verstand plötzlich neue Zusammenhänge.
Der nächste Tag begann für mich im Governance Commitee, wo die Delegierten Erfahrungen über Kreislaufwirtschaft, den Umgang mit Wasser, Zwei-Kammer-Systeme und Digitalisierung austauschten. Die Diskussionen werden jeweils von einer Keynote-Speech eingeläutet und bestehen anschliessend aus Interventionen und Fragen. Diese stützen sich meist auf einen Bericht, der Empfehlungen für die Lokal- und Regionalpolitik beinhaltet.
"In seiner Rede wurde mir bewusst, weshalb es dieses Organ unbedingt braucht"
Später besuchte der Generalsekretär des Kongresses, Mathieu Mori, das Commitee-Meeting. In seiner Rede wurde mir bewusst, weshalb es dieses Organ unbedingt braucht: Die moldawische Region Kaukasus steht unter russischem Einfluss und wünscht sich, dass das Monitoring Commitee deshalb die kommenden Wahlen beobachtet. Wahlbeobachtungen ist eine der Hauptaktivitäten des Kongresses: Regelmässig besuchen Gruppen aus Delegierten Lokal- oder Regionalwahlen, beobachten sie und stellen Berichte aus, was in Hinblick auf mehr Demokratie verbessert werden könnte. Aufgrund fehlender Ressourcen musste diese Einladung jedoch abgelehnt werden – obwohl die Sicherstellung sauber ablaufender Wahlen gerade unter diesen Umständen enorm wichtig wäre.
Das das nicht selbstverständlich ist, zeigten letztes Jahr die Wahlen in Berlin: Den Behörden unterliefen so viele Fehler, dass sie im Februar 2023 wiederholt werden mussten und von einer Komitee-Delegation beobachtet wurden. Der entsprechende Bericht wurde dann am Nachmittag im Kongress vorgestellt.
Es war eindrücklich, als sich die mehreren hundert Delegierten zur Eröffnung des 44. Kongresses erhoben und die Europahymne erklang. Doch etwas war anders als sonst: Wir befanden uns im Europaparlament, dem Organ der EU, weil der Plenarsaal des Europarats gerade renoviert wird. Nachdem der Präsident des Kongresses und die Generalsekretärin des Europarats spannende Reden hielten, begann der offizielle Kongress.
Was in den drei Tagen alles besprochen und verabschiedet wurde, lässt sich hier nachlesen.
Neben den langen Reden und Diskussionen im Kongress fand ein abwechslungsreiches Rahmenprogramm statt: Ein Solidaritätsmarkt für die Türkei, ein musikalischer und kulinarischer Einblick in Aserbaidschan, ein klassisches Konzert in der eindrücklichen Kathedrale Strassburgs und Erzählungen von Angehörigen ukrainischer Kriegsgefangenen. Ausserdem haben wir uns mit Hugo Biolley, einem 21-jährigen Bürgermeister aus Frankreich, zum Abendessen getroffen und spannendes über seine Wahlkampfstrategien erfahren.
Neben dem besonderen Besuch auf der Botschaft ist meine Intervention zum Thema «Mental health crisis» ein weiteres persönliches Highlight. Ich habe sie im Rahmen der Debatte über die Resilienz von Städten und Regionen im Hinblick auf die Multikrise gehalten und damit ein Anliegen der Jugendsession des Kantons Bern in den Kongress getragen.
Wie der Kongress eröffnet wurde, ging er auch zu Ende: Mit der Europahymne. Beim gemeinsamen Abschluss unter uns Jugenddelegierten wurde sichtbar, wie eng wir zusammengewachsen sind. Wir können uns jedoch spätestens für den 45. Kongress im Oktober auf ein Wiedersehen freuen. Bis dahin werden wir auf lokaler und regionaler Ebene ein Projekt zur Stärkung von politischer Partizipation durchführen, um unsere gesammelten Erfahrungen anzuwenden.
Die Woche war intensiv, lehrreich, ermutigend, inspirierend, anstrengend, stressig und bereichernd zugleich. In jeder freien Minute arbeiteten wir an unseren Reden, hatten Termine bis spät am Abend, sassen bis zu fünf Stunden am Stück im Kongress und wurden den ganzen Tag mit neuen Eindrücken konfrontiert.
"Wir haben unsere Komfortzone verlassen"
Der Schlafmangel hat sich definitiv gelohnt: Wir haben unsere Komfortzone verlassen, verschiedene politische Systeme und ihre Probleme kennengelernt, unser Netzwerk erweitert und vieles über die aktuellen Themen erfahren. Wir sind auf Widerstand gestossen und haben Komplimente erhalten, uns gegenseitig unterstützt und uns füreinander gefreut. Diesen Zusammenhalt, die geteilten Werte und die Solidarität, die ich unter den Jugenddelegierten aus ganz Europa erfahren habe, wünsche ich mir auch auf politischer Ebene.
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